Das Paretoprinzip besagt angewendet auf Softwareprojekte, dass 80% des Projekterfolgs in 20% der Zeit erledigt werden. Für die restlichen 20% benötigt man aber noch 80% der Zeit.
Die Euphorie – das dominierende Gefühl
Angesichts der Euphorie über die KI auf der Legal Revolution, die am Dienstag und Mittwoch in Nürnberg stattfand, müssten diese 80% nun erreicht sein. Selbst Experten, die es besser wissen sollten, vermitteln das Gefühl, KI sei ein intelligenter, einsichtsfähiger und denkender Organismus. Zumindest sprachlich wird wie von einem Menschen geredet. Wenn man dann den Einwand erhebt, KI sei im wesentlichen Statistik und man sollte die Mechanismen und die Grenzen kennen, dann fühlt man sich wie ein Spielverderber. KI kennt zur Zeit keine Grenzen.
Es gab kaum einen Stand, der nicht irgendwie auch beeindruckende KI-Lösungen präsentierte. Schaute man genauer hin, wurde allerdings nicht immer alles dem Zufall überlassen. Da konnte es auch mal passieren, dass sogar an unterschiedlichen Ständen „ganz spontan“ das selbe Szenario auf derselben Plattform präsentiert wurde. Das lieferte dann auch ganz überraschend dieselben Ergebnisse. Vieles war noch gut orchestriert und wenig dem Zufall überlassen.
Ob KI jemals wirklich in einem breiten Anwendungsgebiet Rechtsrat erteilen kann, blieb offen. Niemand wollte dies als Ziel offen formulieren. Gebetsmühlenartig wurde von „Assistenten“ oder „Copilot“ gesprochen und davon, dass die letzte Entscheidung immer beim Menschen bleiben müsse. Ob das angesichts der großen Euphorie in der Praxis geschieht, oder zur theoretischen Option verkümmert, wird die Zeit zeigen.
Der Selbsttest
Zur Kernkompetenz der KI gehört jedenfalls die Analyse von Texten, da ist man sich einig. Sie deckt Fehler, Unstimmigkeiten oder auch nur schlechte Formulierungen auf oder vergleicht blitzschnell mehrere Texte miteinander. Aus ethischer und beruflicher Sicht ist das ein wohl unkritischer Anwendungsbereich und er hat das Potential, sehr viel Aufwand zu reduzieren.
Selbst euphorisiert habe ich sofort einen Versuch unternommen und eine geplante heimische Vereinsförderrichtlinie von ChatGPT kritisch untersuchen lassen. Sie befand sich gerade in der lokalpolitischen Abstimmung und ich war bis dato mit der Richtlinie eher weniger zufrieden: Es gibt dort ungewöhnliche Formulierungen, die ich so noch nirgends gesehen habe, Passagen, die unklar und teils redundant, mithin überflüssig sind. Es gibt überraschende Anknüpfungspunkte und Regelungen, die einen erheblichen Aufwand bei Verein und Verwaltung mit sich bringen. Teile der Kritik sind schon durch Lektüre der Richtlinie erkennbar, andere Teile erfordern Kenntnisse darüber hinaus. Eine Aufgabe wie der KI auf den Leib geschrieben, mag man meinen.
Ich habe mit viel Liebe einen sehr deutlichen und umfangreichen Prompt geschrieben. Ich habe die KI mit der Nase auf die Probleme gestoßen und sie gebeten, kritisch zu sein – aber: Keines meiner Bedenken hat die KI selbständig erkannt und beanstandet. Sie war vollumfänglich mit dem Dokument zufrieden. Und tatsächlich führte diese statistische Einschätzung dazu, dass ich meinen eigenen Groll über das Dokument zurückgefahren habe. Wenn die KI das gut findet, kann’s so schlecht ja nicht sein.
Erst in einem mühsamen Dialog gelang es aber doch, einzelne Probleme herauszuarbeiten und neu zu formulieren. Anpassungsfähig ist sie ja, die digitale Assistentin. Sie sollte in die Politik gehen. Am Ende musste und konnte ich ChatGPT punktuell von meiner Ansicht überzeugen und bekam auch Formulierungen, die deutlich besser waren.
ChatGPT war hier eine gute Sparringspartnerin für mich als Einzelkämpfer. Als Werkzeug zur ersten Textanalyse war das System aber gänzlich ungeeignet. Und Zeit hat der gesamte Vorgang sicher nicht gespart.
80% von was?
So neige ich zu Zweifeln. Gab es auf der Legal Revolution doch eher Demonstrationen theoretisch denkbarer Einsatzgebiete auf Basis gut orchestrierter Beispiele und nicht so sehr echte Live-Präsentationen belastbarer Produkte? Verlassen würde ich mich auf die KI sicher noch nicht.
Es bleibt bei der Einschätzung, dass bestenfalls 80% des Weges gegangen sind. 80% der Entwicklungszeit liegt noch vor uns. Was das bedeutet hängt davon ab, wie lange die 20% Entwicklung schon andauern.
Geht man von den eineinhalb Jahren aus, die die Sprachmodelle jetzt en vogue sind, dann könnte auch ich fertige Lösungen wohl noch erleben. Rechne ich mit mehr als 30 Jahren, in denen ich die Forschung an KI zumindest aus einiger Entfernung beobachte, dann ist das ein Thema für meine Urenkelkinder.
Ob das Durchhaltevermögen derer, die gerne auf Hypes setzen, ausreichend lange anhält und wann der nächste Hype um die Ecke kommt, um die Aufmerksamkeit und Investitionen von Wirtschaft und Politik auf sich zu ziehen, wird sich auf den Veranstaltungen der nächsten Jahre zeigen. Ich kann mir durchaus vorstellen, dass der Euphorie eine gewisse Ernüchterung folgt.
Es bleibt aber ein Gefühl bestehen: Die KI ist gekommen, um zu bleiben. Und wir werden Bereiche finden, in denen wir sie sinnvoll einsetzen können.