Eine Machthaber, eine willkürliche Anordnung und eine junge Frau, die sich widersetzt. Das sind die Zutaten der seit mehr als zweitausend Jahren zeitlosen Antigone des Sophokles. Sie endet seit jeher in einer Katastrophe. Zum Glück wohnen wir an einem Ort in einer Zeit, wo die folgen zivilen Ungehorsams nicht gleich lebensbedrohlich sind. Aber auch hier und heute kann der Widerstand gegen Obrigkeit existenzbedrohliche Folgen haben.
Genau darin liegt die Herausforderung für jede Inszenierung dieses Stoffs. Regisseurin Jette Stehle bewältig sie in ihrer neuen Interpretation am Wiener Burgtheater mit einigen beachtlichen Kunstgriffen. Sie nimmt den Zuschauer zunächst mit auf eine Zeitreise oder gar eine Reise durch die Evolution, die den Filmfreund unweigerlich an Stanley Kubrick’s 2001 erinnert. Beginnend in einer kargen Wüstenlandschaft bewegen sich Antigone und Ismene affenartig bei ihrem Zwist über Sinn und Unsinn der geplanten Tat. Das ist vielleicht nicht der stärkste Augenblick des Abends.
Im Anschluss erhebt sich eine imposante und immer wieder übermäßig hell leuchtende und die Bühne von nun an beherrschende Scheinwerferwand aus dem Boden (Bühne: Florian Lösche, Licht: Peter Bandl). Reflexartig kommt der Gedanke an „Also sprach Zaratustra.“ Schlaglichtartig werfen Figuren das „Was bisher geschah“ als Schatten in grell beleuchteten Nebel. Diese Lehr-Sekunden in griechischer Mythologie bestärken den Eindruck, dass sich die Inszenierung zumindest auch an ein jugendliches, vielleicht etwas unbedarftes Publikum wendet. Mit Erfolg, wie der Blick ins Zuschauerrund zeigt.
Die Zeitreise geht weiter und während Kreon seine Antrittsrede – beeindruckend gespielt von Joachim Meyerhoff – noch in einer Art zur Toga mutierten Ledenschurz hält, wird er am Ende in einem schlichten Anzug abgehen.
Jette Steckel schafft in ihrer Inszenierung einen gelungenen Spagat zwischen klassischer antiker Theaterform und modernem Musical (Musik: Anja Plaschg [Soap&Skin]| Anton Spielmann |1000 Robota]). Das ist der zweite Kunstgriff, mit dem es gelingt die Geschichte meist stimmig und immer spannend zu erzählen. Manchmal fragt man sich dann sogar, ob man den Weg in Richtung Musical nicht noch konsequenter hätte gehen können. Jedenfalls die Intonierung des Chors und akustische wie visuelle Effekte überwältigen ganz ohne zu übertreiben. (Vor der Lautstärke und grellem Licht wurde im Foyer gewarnt.)
Der vielleicht sogar signifikanteste Kunstgriff war die Inszenierung des gesprochenen Wortes. Die Langsamkeit der Sprache, ihre Präzision und die Behutsamkeit der Übersetzung bzw. Adaption – selbst der gesungene Chor war wo nötig gut verständlich – machten den Text zum heimlichen Herrscher des Abends. Und das war auch gut so. Denn dieser Text ist einfach zeitlos stark. Es war wichtig und großartig, das man jedes Wort auf die Goldwaage legte. Man muss sich diese Texte auf der Zunge zergehen lassen.
Aber genau in der Fokussierung auf den Tag lag dann gelegentlich auch die Schwäche. Denn im Vortrag der einzelnen Protagonistinnen und Protagonisten gab es solche Brüche, dass man nicht immer wusste, ob sie dem Umgang der Schauspieler mit der Sprache geschuldet oder ein bewusster Regieeinfall waren. Während Joachim Meyerhoff den Kreon erschreckend glaubhaft und authentisch – nicht selten fast sympathisch – verkörperte, erkannte man bei den übrigen Protagonisten gelegentlich die statischen Züge überkommener Spielformen und dann wieder die Exzentrik moderner Performance.
Der verkopfte Besucher (oder Kritiker) suchte nun im Glauben an die Klasse der Schauspielerinnen und Schauspieler nach dem Sinn dieser Brüchigkeit. Vielleicht war genau dieser Kontrast das Ziel? Irgendwie zentrierte der teils unbeholfen wirkende Auftritt auch von Mavie Hörbiger (Ismen) und Aenne Schwarz (Antigone) das Geschehen zu einer One-Man-Show des Despoten. Und so regte die manchmal spröde Szenerie auch dazu an, kurz die Augen zu schließen und um so intensiver dem Text zu folgen.
Am Ende des Abends weiß der aufmerksame Zuschauer, dass der Missbrauch von Macht und die Unfähigkeit der Konfliktbewältigung kein besonderes Phänomen unserer Zeit sind. Sie sind ein Menschheitsphänomen. Es keimt auch keine Hoffnung auf, dass dies besser werden könnte – ganz im Gegenteil. Der Machthaber ist der heimliche Star. Und er beschließt den Abend – nicht ganz originalgetreu – mit demselben sinnlosen Dekret, mit dem das Unheil begonnen hatte. Allein der Unterhaltungswert von Bühne, Licht und Musik verhindern eine tiefe Depression des Betrachters.
Die Inszenierung ist spannend und sie ist mitreißend. Und genau darin lag ihre Stärke. Eine Antigone, die – über Altersgrenzen hinweg – unbedingt sehenswert ist.