Verlust von Unschuld

Das „Sylt-Video“ hat in der laufenden Woche für Schlagzeilen gesorgt. Ein paar Jugendliche, die mit dem Wort „Schnösel“ erstaunlich gut beschrieben werden, haben mit ausländerfeindlichem Gesang für „nationale[n] Furor“ gesorgt. Viel wird über die rechtlichen Konsequenzen gesprochen. So auch in einem LinkedIn-Beitrag von Prof. Dr. Volker Römermann. Aber die juristische Betrachtung greift sehr kurz.

Sie haben recht lieber Herr Kollege Römermann: Strafrechtlich wird man das Verhalten auf den Sylt-Videos genau bewerten müssen. Bei Straftaten unter Alkoholeinfluss hält unser Recht ja die eine oder andere Wendung bereit. Eine Bewertung aus einem Video herzuleiten, könnte schwierig werden.

Das Problem sitzt aber tiefer und muss im globalen Kontext gesehen werden: 

Unsere Generation hat eine Zeit erlebt, In der es fast nur aufwärts ging. Vor allem aber eine Zeit, in der wir Krieg und Krisen nur vom Hörensagen kannten. Ein neuer Krieg war in Europa angesichts der Erfahrungen im 20. Jahrhundert und des atomaren Rüstungspotentials genau so undenkbar wie eine Rückkehr zu rechtsextremer Politik. Die pure Ratio hat beides ausgeschlossen. Die Vorstellung, dass man aus der Vergangenheit nichts gelernt hat, schien absurd. Man konnte (und wollte) sich nicht vorstellen, wie es jemals zum Nationalsozialismus kam und wie Deutschland vor hundert Jahren (ein zweites Mal) einen Weltkrieg entfacht hat.

Als humanistisch ver:gebildeter Mensch habe ich seit Jahrzehnten zumindest gelegentlich darauf hingewiesen, dass Menschen bereits in der Antike das subjektive Empfinden hatten, die eigene (damals sehr kleine) Welt zerstören zu können. Dennoch haben sie immer wieder Kriege geführt. Damals schon waren Kriege irrational und vor allem die handelnden Personen teils eben nicht von Intelligenz sondern von Hybris geleitet. Auch deshalb habe ich in meiner Jugend mehrfach Sophokles’ Antigone auf die Bühne gebracht. Mehrere Dekaden später, 2016 war das dann – sicher auch aufgrund der Ära Trump – das meist gespielte Stück auf den deutschsprachigen Brettern, die die Welt bedeuten. Ich schweife ab.

Für all diejenigen, die die Hoffnung auf ewige Vernunft und damit ewige Sicherheit und ewigen Wohlstand hatten, erhält dieses, ihr Weltbild zunehmend Kratzer. Die Bruchstellen werden offensichtlich: Immer mehr unberechenbare Autokraten sitzen an wichtigen Schaltstellen der Welt. In allen Teilen Europas wird rechtsextremes Gedankengut salonfähig. Ein nicht mehr rational handelnder russischer Präsident beginnt einen Angriffskrieg in Europa. Vergleiche mit der Zeit vor 100 Jahren werden dennoch weiterhin konsequent zurückgewiesen – wenn sie nicht gerade von Zeitzeugen wie Margot Friedländer kommen.

Die Demokratie zeigte Schwäche in einer neuen existenziellen Bedrohung, der Corona-Krise. Ohnmächtig mussten wir erleben, wie unser Gerüst der Grundrechte wackelte. Wie selbst integre Führungspersönlichkeiten den moralisches Kompass panisch beiseite legten und unantastbar geglaubte Prinzipien in der Krise rein wirtschaftlichen Interessen unterordneten.

Und dann ist da die Klimakrise, ein Phänomen, das uns an einem Jahrtausende alten Glauben zweifeln lässt: Dem Glauben, dass wir in unserer Zeit mit unserer Technik jedes Problem lösen können. „Unbewandert in nichts geht er ins Künftige“ (Antigone, Vers 360) der Ungeheuerlichste (δεινότατος), der Mensch. Zu diffus ist das Problem, zu komplex, zu unberechenbar. Es kommt langsam und unerbittlich aber spürbarer wird es von Jahr zu Jahr. Die Umkehr des Klimawandels ist für viele schon keine Option mehr. Der Schutz vor den Folgen wird eingefordert.


In Zeiten dieser Disruption unserer behüteten Welt scheint ein Video ein Loch zu reißen in die ebenfalls angekratzte Schutzschicht, mit deren Hilfe rechtsextremes Gedankengut in der besseren Gesellschaft bisher weitgehend unter der Oberfläche gehalten wurde. Im Glauben an die Wahrheit im Wein fällt es schwer, Trunkenheit als Entschuldigung zu sehen. Vielmehr scheint der Alkohol ein Katalysator zu sein. 

Untiefen deuten sich an, schaut man durch dieses, freilich winzige Loch. Es ist nicht das erste. Bereits Anfang des Jahres erschütterte die Nachricht vom „Geheimplan gegen Deutschland“, geschmiedet in einem Potsdamer Hotel, die Öffentlichkeit. 

Es ist nichts Neues, dass rechtsextremes Gedankengut auch und gerade in den gutbürgerlichen Schichten wahrscheinlich nie ganz getilgt, sondern einfach nur gut versteckt war. Damit haben wir uns arrangiert, weil wir es nicht gesehen haben und es auch nicht sehen wollten.

Aber jetzt können wir einen Moment lang nicht mehr wegschauen. Und wir fürchten, die Ereignisse könnten kein Einzelfall bleiben. Die Unmöglichkeit einer Rückkehr zum Nationalsozialismus war bisher ein Paradigma unseres Lebens. Und das scheint nicht mehr zu gelten. Sylt hat uns einen Teil unserer Unschuld genommen. Das macht uns wütend. Und am liebsten würden wir das Unheil zurück stopfen und das Loch kitten.


Aber Sylt ist kein Fall vom Fehlverhalten vereinzelter, vermeintlich wohlhabender Schnösel, der uns momentan betroffen macht. Es ist ein Axthieb gegen unseren Glauben an eine bessere Zukunft. Es ist ein weiterer Baustein für eine existenzielle Angst vor einer Wiederholung von Geschichte. 

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