Terror, Ihr Urteil von Ferdinand von Schirach hat eine Diskussion über Recht, Prinzipien und Moral in die deutschen Wohnzimmer gebracht. Das Thema ist brisant. Das Theaterstück und mit ihm der Film leisten einen wirklich wertvollen Beitrag zum Diskurs über moralische Grenzfragen. Aber genau diese moralische Diskussion wird überlagert von einer bangen Frage, die womöglich ganz überflüssig war.
Gleich vorweg: Ich habe die Diskussionsrunde nach 15 Minuten für mich durch Druck auf den roten Knopf beendet. Über Moral lässt sich ebensowenig diskutieren wie über Geschmack. Und wenn ein Gerhard Baum wie eine beleidigte Leberwurst nicht akzeptieren kann, dass das Grundrecht der Meinungsfreiheit auch eine freie und kritische Meinung über eine Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts schützt, und jeden öffentlichen Diskurs hierzu polemisch findet, dann war dies so ärgerlich, dass ein wirklich konstruktives Gespräch kaum mehr zu erwarten war. Auch die übrigen Herren wirkten wenig elastisch in ihrer Meinung. Einziger Hoffnungsschimmer war Petra Bahr, die zumindest zu einer differenzierten Betrachtung fähig war, eigentlich die typische Domäne der Juristen in der Runde. Naja, die Presse heute morgen hat mich in meinem Handeln bestätigt.
Aber zur Sache: Das Thema ist brisant. Das Theaterstück von Ferdinand von Schirach und mit ihm der Film leisten einen wirklich wertvollen Beitrag zum Diskurs über moralische Grenzfragen. Aber genau diese moralische Diskussion wird überlagert von einer bangen Frage: Hätten der Kapitän oder die Passagiere der Linienmaschine am Ausgang des Fluges noch etwas ändern können?
Darin liegt bereits die Schwäche des Stücks und es bleibt anzumerken, dass Autor und Regisseur hier spätestens für die Filmfassung noch korrigierend hätten eingreifen müssen. Die offenen Fragestellungen über das Geschehen im Inneren des Flugzeugs hätte man im echten Prozess zumindest teilweise klären können und durch ein ausgiebiges Beweisverfahren auch klären müssen. Zum Glück blieb uns das erspart. Aber warum hat Herr von Schierach nicht einfach den Terroristen ans Steuer gesetzt, wie in der Realität am 11.09.2011 geschehen? Das hätte die moralische Grundfrage kaum berührt und die Nebenprobleme entschärft. Warum wird die Frage, was man im inneren der Maschine hätte machen können, nur in wenigen Nebensätzen angesprochen? Die dabei wichtigste Frage nach den Möglichkeiten des Piloten wird überhaupt erst im Plädoyer der Staatsanwältin (Martina Gedeck) gestreift? Und warum lässt der Autor den Verteidiger (Lars Eidinger) oder doch wenigstens den Richter (Burghart Klaußner) nicht die vier wichtigsten Worte hierzu sagen: in dubio pro reo
, im Zweifel für den Angeklagten?
Dieser In-Dubio-Grundsatz, der wohl bekannteste und wichtigste Grundsatz unseres Strafrechts, ist ein Ausfluss des im Verfahren vielzitierten Schutzes der Menschenwürde. Er ist – obschon viel älter – die Manifestierung des Art. 1 Abs. 1 GG im Strafrecht. Und der Strafverteidiger erwähnt dies mit keiner Silbe? Natürlich kann dieser Grundsatz nicht herangezogen werden, um Fragen der Rechtsauslegung zu klären oder moralische Konflikte zu lösen. Er führt also nicht automatisch im verhandelten Fall zum Freispruch. Aber alle offen gebliebenen Tatsachenfragen sind so behandeln, wie sie für den Angeklagten (Florian David Fitz) am günstigsten sind. Das heißt im Endeffekt, alle Beteiligten müssen davon ausgehen, dass der Abschuss die einzige Möglichkeit war, die Stadionbesucher zu retten, und dass dieser Abschuss im letzten möglichen Augenblick erfolgt ist. Alle übrigen Spekulationen sind für die Entscheidung zu ignorieren.
Und dann war da noch das Grundproblem: 161 Menschenleben gegen 70.000. Das klingt fast immer wie ein Entweder-Oder. Alle Fallbeispiele, insbesondere der Weichenstellerfall sind so gewählt: Entweder die einen oder die annderen. Aber wandeln wir doch den Fall etwas ab:
Eine Bergbahn rast ungebremst ins Tal. An Bord 10 Passagiere. Am Ende der Strecke die Talstation mit zwei Gleisen. Beim Auftreffen des Zuges werden alle Passagiere des Zuges sterben, egal auf welchem Gleis sie eintreffen. Wieder haben wir eine Weiche. Auf einem Gleis stehen 5 Personen, die vom Zug überrollt werden. Auf dem anderen Gleis steht niemand. Die Weiche ist auf das mit Personen besetzte Gleis gestellt. Darf der Weichensteller die Weiche umlegen, um fünf Leben zu retten?
Natürlich darf er, er muss sogar, da er sich ansonsten einer unterlassenen Hilfeleistung strafbar macht. Der Tod der Zuginsassen ist unabwendbar und in beiden Fällen sind Unfallursache und Unfallhergang für die Passagiere identisch. Aber nun eine kleine Abwandlung:
Das leere Gleis ist etwas kürzer. Der Aufprall auf diesem Gleis geschieht 1/2 Sekunde früher. Zeit genung für die Passagiere, die geschriebene SMS noch abzuschicken, ein letztes Wort am Telefon zu sagen. Zeit, die der Weichensteller den Passagieren nehmen müsste, um fünf weitere Leben zu retten.
Wenn zwei Personen unabhängig voneinander auf denselben Menschen einen tödlichen Schuss abgeben, dann ist derjenige der Mörder, dessen Kugel als erstes trifft. Der andere ist nur wegen Versuchs zu belangen. Das ist auch vernünftig. Es kann nicht sein, dass sich jeder Schütze damit verteidigt, dass der andere Schuss auch tödlich gewesen wäre. Es kann in diesem Fall aber auch keine zwei Mörder geben.
Aber wird der Weichensteller vom Retter zum Mörder, weil er in den Lauf der Dinge eingreift und das Leben der Passagiere um wenige Momente verkürzt? Wo wäre die Grenze, bei einer Sekunde, 5, 10? Man kann die Beispiele beliebig erweitern: Was etwa, wenn sich der Zug nur durch eine gezielte Entgleisung aufhalten ließe, bei der dann auch alle Passagiere sterben müssten? Was wäre, wenn der Weichensteller die Weiche versehentlich zunächst auf das besetzte Gleis stellt, dann seinen Fehler, noch bevor der Zug die Weiche passiert, korrigiert und sie auf das kürzere Gleis zurückstellt?
Folgt man nach streng logischen – quasi rein digitalen – Regeln den Prinzipien der Verfassung, kommt man bei fast identischen Sachverhalten zu teils völlig unterschiedlichen Ergebnissen. Das ist absurd. Genau deshalb sollte man sich vielleicht darauf besinnen, dass auch der Angeklagte ein Recht auf Schutz seiner Menschenwürde hat. Auch seine Menschenwürde ist unantastbar. Es kann nicht sein, dass ein Mensch für etwas bestraft wird, dass vielleicht aufgrund eines rein logischen Schlusses falsch, moralisch aber von einer erdrückenden Mehrheit für richtig gehalten wird.
Wenn sich das Grundgesetz zulasten seiner Bürger, zu denen auch der Angegklagte gehört, gegen allgemeine moralische Grundsätze stellt, dann muss man darüber zumindest sprechen dürfen. Und diesen Diskurs anzustoßen, ist das große Verdienst des Filmes. Zum Schluss noch zu den Schauspielern: Sie waren großartig, alle.