Mehr Anstand

Am Mittwoch um 18:10 Uhr – pünktlich – treffe ich am Hauptbahnhof in Leipzig ein. Was für ein Bahnhof! Einmal im Jahr Leipzig. Diesmal nicht Buchmesse sondern Deutscher Anwaltstag 2019.

Noch auf dem Bahnsteig kommt mir Katarina Barley entgegen, umringt von vier Polizisten und offensichtlich in Eile. Die falsche Richtung will ich sagen. Das weiß sie sicher selbst. Sie wird doch wohl nicht nur zum Schlafen nach Berlin fahren? Denke ich. Wird sie nicht…

Am folgenden Tag lässt sie Christiane Wirtz das Grußwort sprechen. Womöglich hat die Justizministerin nach ihrer Wahlkampfveranstaltung zum ersten Mal das Manuskript ihrer Rede gelesen. Da hat sie dann vielleicht festgestellt, dass sie den Kolleginnen und Kollegen aus der Anwaltschaft nichts zu berichten hat.

Dieses Nichts darf die bedauernswerte Staatssekretärin am Morgen den Besuchern des DAT verkaufen. An allen Projekten sei man dran, der Input des Anwaltverein sei sehr wertvoll, man bleibe in Kontachrrrrrr… 😴

Kein Anstand mehr

In einer anderen Liga bewegt sich dann der Festvortrag von Georg Mascolo. Er war Chefredakteur von DER SPIEGEL und ist jetzt Leiter der Recherchekooperation NDR/WDR/SZ.

Als Mascolo nicht nur den Rechtsstaat eloquent in Gefahr sieht ‒ großer Beifall ‒ sondern auch mehr Anstand von den Unternehmen und den sie beratenden Anwälten und Steuerberatern fordert, ist klar: Dieser Vortrag kann kein ungeteilt positives Echo finden.

Das ‒ so spürt man am Abend in Gesprächen mit Kollegen ‒ sei wohl ein fundamentales Missverständnis der anwaltlichen Aufgaben. Selbstverständlich müsse Anwalt oder Anwältin gerade diejenigen Lücken im Gesetz finden, die für den Mandanten günstig sind. Das war schon immer so. Und bei Steuerberatern sowieso.*

Herr Mascolo hat dennoch recht: Es gab Zeiten, in denen Unternehmen, die jede Lücke im Gesetz nutzten ‒ insbesondere zu Lasten der Allgemeinheit ‒ schwarze Schafe im Unternehmerkreis waren. Heute sind das die Helden.

Der Staat kontert mit immer noch mehr Regulierung. Noch spezieller, noch anfälliger für neue Lücken. Die gute alte Generalklausel hat ausgedient. Die Folge rücksichtsloser Ausnutzung von Schlupflöchern und Gesetzeslücken ist Überregulierung.

Ein neoliberales Wirtschaftssystem schafft sich ab, wenn der Anstand verloren geht.**

Und Anwalt oder Anwältin? … muss für den Mandanten das Beste geben, keine Frage. … kann aber Mandate auch ablehnen. Wer das vergessen hat, ist Teil des Problems.

Sonst noch was?

Was gab es noch am DAT 2019? Großartige Abendveranstaltungen! Die erste – im Zoo – war schon kaum zu toppen, ging dann aber doch.

Abend in der Moritzbastei

Tagsüber etwas ermüdende Vorträge zum Thema IT und Recht, auch LegalTech genannt. Eine gefühlte Abkühlung dieses gehypten Themas auch auf der Begleitausstellung AdvoTech. Dennoch, die Gespräche sind gut.

Vielleicht kommen wir ja bis zum nächsten DAT wieder am Boden an. Wir machen nach all den Höhenflügen in KI, Block Chain, Smart Contacts etc. einfach wieder unsere Arbeit. Und wenn uns etwas bleibt, was die Arbeit erleichtert und die Qualität verbessert, ergibt der Ausflug auch einen Sinn.

Am Freitagmorgen sitze ich wieder im Zug, die Taschen voll mit Unterlagen. Die meisten davon bleiben wie jedes Jahr ungelesen. Ich habe noch einen Werkstattofen im Büro, der wird sich freuen. Wichtiger sind eben doch die Gespräche, die am Rande.


* Bei meinem nicht. Der findet nicht mal die ganz normalen Sparmöglichkeiten. (Anmerkung des Bloggers)

** Warum hat wohl Kevin Kühnert über die härtesten Eingriffsmöglichkeiten des Staates laut nachgedacht.